Was aber ist Dominanz wirklich?
Dominanz ist keine Eigenschaft
Es handelt sich dabei viel mehr um eine Beziehung, also ein komplexes Zusammenspiel des Verhaltens von mindestens zwei Lebewesen. Eine Dominanzbeziehung liegt dann vor, wenn einer der Beteiligten regelmäßig und vorhersagbar seine Interessen gegen den anderen durchsetzen kann, ohne dafür direkt körperliche Gewalt anwenden zu müssen.
Die Dominanzbeziehung wird also durch den Rangtieferen anerkannt und gefestigt. Der Ranghöhere kann entscheiden, wann er seine Dominanzansprüche durchsetzen möchte, er kann aber auch darauf verzichten. Der Rangtiefere muss dieses anerkennen. Wie jede soziale Beziehung wird auch eine Dominanzbeziehung durch eine lange Aufsummierung von Verhaltensweisen zwischen den Beteiligten gestellt.
Die Summe aller Dominanzbeziehungen kann (muss aber nicht) eine Rangordnung ergeben.
Rangordnung
Von Rangordnung spricht man, wenn jedes Tier über oder unter einem bestimmten Tier in einer klaren Reihung angeordnet ist. Also A dominiert über B, B dominiert über C usw. Kreise und Zirkelschlüsse sind auch möglich, wie A dominiert B, B dominiert über C, C dominiert über A , D dominiert über B. Jedoch gibt es auch andere Sozialsysteme, wie despotische Systeme, bei denen einer über alle dominiert. Dominant ist der, der nie eine Auseinandersetzung beginnt, aber jede gewinnt, in die er von anderen verwickelt worden ist. Und genau hier liegt der Fehler: Häufig handelt es sich um kleine Stänkerer. Im günstigsten Fall könnten sie rechnerisch etwa auf der mittleren Rangposition landen, wenn sie tatsächlich viele der von ihnen vom Zaun gebrochenen Auseinandersetzungen auch gewinnen. Viel häufiger jedoch würden sie diese Auseinandersetzungen verlieren, wenn sie nicht von ihrem Halter gerettet oder anderweitig aus der Situation heraus geführt würden, dann wären sie auf der Rangordnung ganz unten.
Dominanz ist NICHT Aggression
Dominanz hat überhaupt nichts mit Aggression zu tun. Wer wirklich dominant über andere ist, kann ohne jegliche Aggression seine Interessen gegen den anderen durchsetzen.
Der hat nämlich gar keine Gewalt nötig. Wer aggressiv werden muss und womöglich sogar unritualisiert aggressiv und mit körperlicher Gewalt agieren muss, ist eben nicht unangefochten dominant.
Dominant dagegen wäre ein Hund, der es gar nicht nötig hat, aggressiv zu agieren > „Er kam, sah und kriegte (was auch immer er will)“. Das ist die Charakteristik eines wirklich ranghohen Tieres das über viele andere dominiert.
Dominanz und Ressourcen
Apropos „er kriegte“: Gerade der Zugang zu Futter und anderen überlebenswichtigen Ressourcen (wie bspw. Wasser) ist bei Hundeartigen nachgewiesenermaßen nicht an die Rangordnung gekoppelt.
Eine Vielzahl von Studien an Caniden zeigt immer wieder, dass beim Futter eine ganz andere Beziehung gilt:
Wer am lautesten und glaubwürdigsten schreit „ICH HABE HUNGER!“ (im Zweifelsfall der Beagle!) der bekommt dann auch zuerst das Futter. Gerade deswegen ist es auch ein weit verbreitetes immer wieder gern zitiertes und oftmals fehlinterpretiertes Missverständnis, wenn man HH beispielsweise erzählt: „Bevor du deinen Hund fütterst, solltest du unbedingt selbst einen Keks essen, sonst wird der dominant“. Oder: „ Du darfst deinem Hund nie von deinem Essen abgeben, sonst wird deine Rangposition in Frage gestellt“. Diese und leider viele anderen Aussagen beruhen auf einem Verständnis von Dominanzpositionen, wie es für unsere äffische Verwandtschaft üblich ist. Dort darf sich i.d.R. der Ranghohe jederzeit am Futter des Rangtieferen bedienen. Bei Caniden deren Rudelstrukturen vielmehr auf Koorperation bei der Nahrungssuche und dem Erwerb angelegt sind, wäre eine solche Vorgehensweise auch wenig produktiv. Was nützt es, wenn ein ranghoher Wolf sich am toten Hirsch den Bauch vollgeschlagen hat, jedoch nur ein Rudel hungriger und dementsprechend geschwächter Mitstreiter hinter sich wüsste, könnte weder gegen das stärkere Nachbarrudel, noch gegen andere überlegene Konkurrenzarten bestehen. Auch die meisten erfahrenen Hundetrainer bestätigen, dass es kaum Hunde gibt, die wirklich die Absicht haben über den Menschen zu dominieren.
Situative und formale Dominanz
Die Probleme im Umgang mit dem Hund bestehen nicht aus dem Rangordnungsbestreben, sie entstehen aus zwei anderen Situationen die ich jetzt weiter eingehen werde:
Zum einen aus der situativen Dominanz, zum anderen aus Verwechslung zwischen Dominanz und Anführerschaft. Auch wenn es sehr kompliziert klingt, die Unterscheidung zwischen der sogenannten formalen und der situativen Dominanz ist für den HH durchaus wichtig. Der Langzeit-Rangordnung Dominante zeigt ausserdem eine aufrechte Körperhaltung mit gestreckten Gelenken und einer eher erhobenen Kopf- und Schwanzhaltung. Der Unterlegene in der Langzeit-Dominanzbeziehung zeigt das Gegenteil mit eher hängenden Gliedern. Alle anderen, auch die als typische Dominanz anzeigend beschriebenen Verhaltensweisen von Kopf-auflegen, Scheinattacken, über Pfoten-Auflegen bis hin zum Schnauzenbiss sind eher der sogenannten situativen Kurzzeitdominanz zuzuordnen.
Und um genau diese Verhaltensweisen geht es hauptsächlich. Denn die situative Dominanz ist nicht gekoppelt an die Langzeitrangordnung, sondern teilt dem Gegenüber lediglich mit, dass man sich in der jetzigen momentanen Situation gerne mit etwa durchsetzen möchte. Das kann der Zugang zum Futter, zum Ruheplatz oder auch ein Abbruchsignal sein, nach dem Motto „Hör auf, du nervst!“ oder auch schlichtweg eine Vergrößerung der Individualdistanz, die man gerade gerne hätte. All diese Situationen sind nicht nur vom Ranghöheren zum Rangtieferen zu beobachten. Diese Verhaltensweisen werden durchaus auch von ‚unten nach oben‘ gezeigt und auch vom Ranghöheren beachtet. Und genau hier liegt der Punkt für das Verständnis unseres Hundes. Wenn uns unser Hund mit einem Verhalten aus der situativen Dominanz mitteilt, dass ihm irgendetwas, was wir gerade tun, nicht gefällt, haben wir trotzdem keinen Anlass daran zu zweifeln, dass er uns als Chef nicht akzeptiert. Insbesondere die Abbruchsignale sind hier besonders hervorzuheben.
Abbruchsignale
Abbruchsignale sind Verhaltensweisen, die immer dann situativ eingesetzt werden, wenn der Hund oder Wolf möchte, dass ein anderer mit irgendetwas aufhört, was er gerade tut. Dazu gehören fixieren, Naserümpfen, Knurren, ggf. auch Scheinattacken oder Kopfvorstoßen oder Auflegen, bis hin eben zu anrempeln oder Pfote-Auflegen. Diese Abbruchsignale werden sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben gezeigt und befolgt.
Ebenso wurde in einer Studie festgestellt, dass der von Hundehaltern missbrauchte und so oft praktizierte Schnauzengriff, bei Hunden als auch Wölfen so selten vorkam, dass sie ihn statistisch gar nicht auswerten können. Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass Hunde und Wölfe, die in dieser Weise (situative Dominanz und Abbruchsignale) gestoppt wurden, keineswegs hinterher beleidigt oder sauer sind. In den meisten Fällen lässt sich sogar ein Weitermachen oder Weiterspielen fast ohne Unterbrechung zeigen. Ebenfalls sind fast keine Stressanzeichen zu entdecken.
Der Mensch muss also keine Angst haben, das Vertrauen des Hundes aufs Spiel zu setzen, wenn man Abbruchsignale anwendet – solange sie der Situation angemessen und klar kommuniziert sind!!! Dominanzbeziehungen, insbesondere die Beziehung der formalen Langzeitdominanz, sind nur nach einer längeren Entwicklung zu beobachten. Wird ein neuer Hund bzw ein neuer Wolf in eine Gruppe eingebracht, oder verliert die Gruppe eines ihrer Ranghöheren Mitglieder, so dauert es Wochen oder gar Monate bis sich die formale Dominanz wieder eingespielt hat. In den ersten Wochen und Monaten werden Konflikte und Auseinandersetzungen dann überwiegend oder ausschließlich mit den Methoden der situativen Kurzzeitdominanz geregelt. Dies bedeutet nicht, dass die Gruppe instabil wäre, sondern lediglich, dass die Tiere noch nicht so wissen, wie sie sich aufeinander einstellen können. Auch das muss ein HH wissen, der einen Hund neu übernimmt und sich mit ihm länger beschäftigt.
Bis der Hund die formale Langzeitdominanz des Menschen anerkennt und auch zu schätzen weiß, dauert es eben eine gewisse Zeit. In der Zwischenzeit können bisweilen auch Anfragen von unten nach oben kommen, die der Mensch als Aufmüpfigkeit auffassen könnte, die in Wirklichkeit aber nichts anderes sind als eine Verunsicherung des Hundes über die zukünftig herrschenden Strukturbedingungen.
Ohne Fleiß kein Preis
Ganz wichtig ist es auch zu betonen, dass eine Dominanzbeziehung den Rangtieferen sehr viel kostet. Er oder sie verzichtet auf eine Reihe von angenehmen Privilegien bzw. gesteht diese kampf- und aggressionslos dem anderen zu. Dafür muss er eine Gegenleistung erhalten. Diese Gegenleistung besteht im Rudel darin, dass man den Schutz der Gruppe wahrnehmen kann. In der Mensch-Hund Beziehung ist es daher Aufgabe des Menschen, dass es für den Hund Vorteile bringt, diese Dominanzbeziehung anzuerkennen.
Führungskompetenz
Chef-sein bedeutet also zunächst Verpflichtungen. Man muss sich einsetzen und sich kümmern. Und hier liegt das nächste elementare Missverständnis der hundlichen und hund-menschlichen Dominanzbeziehung. Dominanz, insbesondere bei Hundeartigen, ist nicht nur, den Führanspruch durchzusetzen, sondern bedarf immer einer glaubhaften Führungskompetenz. Der Dominante muss seine Aufgaben wahrnehmen! Dazu gehören Gefahrenerkennung, Gefahrenvermeidung, die Fähigkeit, den Alltag zu strukturieren und die Fähigkeit, viele andere überlebenswichtige Regelungen für die Gruppe zu übernehmen.
Es geht nicht darum, den Hund zu entmündigen, es geht darum, ihm ein Vorbild zu sein und zu zeigen, dass man weiß, was man tut und warum man das tut. Die Führungskompetenz muss man sich also erarbeiten und durch Vertrauen pflegen und fördern. Kurzzeitige situative Dominanz ist dagegen eine Rolle. Diese kann auch von einem rangniederen Tier der Gruppe ausgeübt werden, wenn er bspw. Bestimmte Dinge besonders gut kann. Man meint, rangtiefere Tiere seien einem besonderen Stress ausgesetzt, dies ist aber schlichtweg falsch. Die meiste Zeit zeigen die Ranghohen Tiere deutlich höhere Stresswerte.
Nur um den Zeitpunkt der Paarung steigt auch bei den Rangtieferen der Stress. Das zeigt wiederum, dass ein Hund kaum freiwillig das Bestreben haben dürfte, sich in eine stressbehaftete ranghohe Position zu begeben, wenn er genauso gut ein stressfreies Leben führen kann. Vielfach sind Hunde dadurch gestresst, dass ihre Halter/innen eben keine souveränen Führungspersönlichkeiten sind und dass der Hund dadurch dem Menschen nicht zutraut den Alltag für beide vernünftig zu regeln und dann somit mehr oder weniger zwangsläufig selbst die Regelung verschiedener Probleme in die eigene Pfoten nimmt.
FAZIT
Man sollte sehr vorsichtig sein, wenn jemand einem einreden möchte, der eigene Hund sei dominant. Die wenigen, die wirklich eine Langzeit-Dominanz gegenüber dem Menschen ausstrahlen möchten, lassen sich durch entsprechend aufrechte bis provokante Körperhaltung erkennen. Die meisten hingegen werden mit situativen Kurzzeitdominanzgesten zeigen, dass sie nur gerade keine Lust haben, sich mit dem nackten Bauch in den Schneematsch zu werfen, nur weil irgendjemand „PLATZ!“ brüllt.
Konfliktmanagement, zunächst durch Abbruchsignale und Verhaltensweisen aus der situativen Kurzzeitdominanz sind für das Hund-Mensch Team keineswegs störend. Jedoch sollte man danach ein Versöhnungssignal gesendet werden, durch das der Rangtiefere erfährt, dass er insgesamt ein sehr willkommenes Mitglied der Gruppe ist. Besonders problematisch ist es, mit falschen oder zu gewaltbereiten Dominanzkonzepten in der Pubertät des Hundes agiert. Wer in dieser Zeit mit dem berüchtigten Alpha-Wurf oder anderen körperlich gewaltsamen Methoden den Hund zu disziplinieren versucht, zeigt genau das Gegenteil: Die Dominanzbeziehung ist nicht gefestigt und wird nicht anerkannt, man muss Gewalt anwenden. Gerade pubertierende Hunde ziehen daraus schnell die Schlussfolgerung, dass sie selbst die Verbesserung ihrer Position in die Pfote nehmen müssen, oder dass ihr Verbleib im Rudel nicht gewünscht ist.
Es gibt ihn also nicht ‚den dominanten Hund‘. Es gibt bestenfalls einige wenige Hunde mit einem ausgeprägten Dominanzbestreben. Es gibt aber sehr viele HH, die dem Hund nicht genügend Vorbild sind, wo der Hund die Langzeitdominanz anzweifelt. Und es gibt Konflikte, die mit den Signalen der situativen Dominanz ausgetragen werden. Diese Konflikte muss der Mensch annehmen und klar erkennbar regeln. Durch Ignorieren wird es nämlich in den seltensten Fällen besser!
Quelle: WUFF 08/2011